Die braune Kiste, Der Panther und Bitte, nur noch ein Kapitel
Ich habe eine braune Kiste in meinem Regal stehen. Sie ist quadratisch und unglaublich schlicht. So schlicht, dass, wenn mein Blick durch mein Zimmer schweift, sie im Braun des Regals untergeht. Die Kiste ist das wertvollste, was ich besitze. Ich habe die alte Plattensammlung meines Vaters, einen mittel-teuren Plattenspieler, technische Geräte und ungefähr 40 Euro im Portemonnaie. Trotzdem ist diese Kiste, das was ich aus einem brennenden Haus mitnehmen würde.
Ich habe mit elf angefangen zu schreiben. Ein Fantasy Roman von 150 Seiten, keine Ahnung, wo der jetzt ist. Darauf folgten Kurzgeschichten, Essays (oder das, was ich mit elf als Essay bezeichnet habe) und irgendwann Gedichte. Ich erinnere mich nicht mehr an an das erste Gedicht, das ich geschrieben habe, aber an das erste, das ich las. Ich war mit meiner Mutter bei einem Poetry Slam. Der Slam Master des Abends begann die Moderation mit folgendem Satz: „Hier ist alles erlaubt, ihr könnt alles vortragen, es sei denn natürlich es beginnt mit: Sein Blick ist vom vorbeiziehen der Stäbe so müd‘ geworden, dass er nichts mehr hält…“ Alle haben gelacht und ich habe meine Mutter gefragt, was das bedeuten soll. Da erzählte sie mir von Rilke und dem Gedicht Der Panther. Das war mein erstes Gedicht. Mit Rilke oder diesem Poetry Slam Abend hat alles begonnen. Oder vielleicht auch damit, dass mir meine Mutter jeden Abend etwas vorgelesen hat als ich klein war; Das Sams, die Kinderbibel und ich immer gebettelt habe „Bitte, nur noch ein Kapitel“.
Nach einer langen Obsession mit Rilke und E.E. Cummings, entdeckte ich die Beat Generation, Allen Ginsburg und Jack Kerouac. Ginsbergs Howl und X. J. Kennedy’s Ginsberg sind mit einem Wahnsinn geschrieben, der mich sehr faszinierte.
I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked, (…) angel headed hipsters burning for the ancient heavenly connection to the starry dynamo in the machinery of night, (…)
Howl, Allen Ginsberg, 1956
Zu guter letzt fand ich zu Emily Dickinson. Für mich eine der lautesten Stimme in der Lyrik. Mit Because I could not stop for death und Apocalypse habe ich sie kennengelernt. Sie hat mich gefesselt, so wie es bisher niemand tat. Dickinsons skurriler, einzigartiger Schreibstil inspiriert mich sehr stark.
alive, alive – she bellows! Emily’s Poems are maddening honesty, a fickle flame, ghastly and death, death, death
Emily’s Poems are, NOra Templin, 2022
Jetzt, neun Jahre später, habe ich eine braune Kiste mit 70 Papierfetzen drin, klein, groß, mit halb verschmierter Tinte beschrieben. 70 Gedichte später bin ich bei Projekt Medea gelandet. Ein Raum, in welchem meine Kiste entleert wird und Stück für Stück vom Regal verschwindet. Wo der Kunstbegriff in Frage gestellt wird und somit ein Raum, wo auch ich meine Kunst weiterhin hinterfragen kann.