Ich bin ein Opfer und ich fühle mich schon lange nicht mehr menschlich.
Ich bin eine wandelnde Maschine, ein Produkt. Das, was wirklich Ich bin, ist nur ein winziger Teil dessen was ich nach außen trage. Ich bin ein Produkt der Menschen, Meinungen und der Gesellschaft um mich rum. Ein Produkt der Menge. Das Ende einer simplen mathematischen Verkettung.
Ich bin nicht dumm.
Ich bin nicht übermäßig schlau, vielleicht durchschnittlich. Und doch bin ich ein Opfer. Ich bleibe kleben, ich klebe im Spinnennetz der Industriemaschinerie die mich als Mängelwesen verstehen lässt. Ich bin nicht so schlau wie der Mann auf dem roten Plastikbuchumschlag in der Hugendubel-Politikabteilung und ich bin erst recht nicht so hübsch wie die Männer, die am Abend über meinen fünfundfünfzig Zoll 4K OLED Plasmascreen flimmern. Trotz den beschränkten Möglichkeiten von audiovisueller Kunst kann ich ihre Ausstrahlung nach außen spüren, ich bilde mir ein ich kann ihre edlen Parfümfilme riechen, die auf ihren geraden Hälsen aufliegen, kann die frischgeföhnten Frisuren durch meine Finger gleiten fühlen.
Ich laufe in den Drogeriemarkt.
Auch ich möchte riechen wie sie, ich möchte, dass meine Locken in derselben geschwungenen Form von meinem Haupt fallen. Ich kaufe Parfüm, Lotion, Shampoo, kaufe Gel für den Schopf, ich bin jung und greife trotzdem aus prophylaktischen Gründen zu zwei, nein drei verschiedenen Gesichtsmasken. Und dann noch eine Anti-Aging-Creme obendrauf. Ich muss vorsorgen, ich bin zwar sehr unzufrieden mit meiner äußerlichen Verfassung, aber ich lebe in ständiger Angst, dass diese sich noch weiter verschlechtern könnte.
Ich lebe in einem ständigen Wettstreit. Ich konkurriere mit der gesamten Menschheit und ihren Idealen. Ich habe den Anspruch attraktiv zu sein – nein, ich habe den Anspruch äußerst attraktiv zu sein, eine Koryphäe der Schönheitswelt. Ich schlage mich mit der ernüchternden Feststellung herum, dass ich allerhöchstens optisches Mittelmaß bin. Allerhöchstens.
Aus diesem Grund unterliege ich dem ständigen Druck mich selbst zu optimieren. In regelmäßigen Abständen kaufe ich Klamotten. Shirts, Schuhe, Pullover, Sweatshirts. Ich glaube ich erfinde mich durch sie neu. Ich glaube regelmäßig, dass dieses eine Kleidungsstück, diese Kombination, dieses bestimmte Outfit, der Schlüssel wäre um mich vollkommen und gut zu fühlen. Jedes Mal aufs Neue funktioniert diese Taktik nicht, sie ist bestenfalls von temporärem Erfolg gekrönt.
Ich sehe Accessoires und Schmuck als Upgrade. Ein Ohrring in meinem rechten Ohrläppchen, Millimeterdurchmesser, gibt mir ernsthaft das Gefühl besonders zu sein, anders, schöner?
Ich bin ein Opfer.
Ich trage diese Sachen nicht aus idealistischer Überzeugung, die Kleidung, die Beauty-Produkte, die Haare, sie alle verfehlen schon seit langem ihren praktischen Zweck um Meilen. Sie sind auch kein Ausdruck meiner Persönlichkeit, kein Teil meiner persönlichen Entwicklung mehr. Vielmehr verhält es sich so, dass ich charakterbezogene Eigenschaften aus ihnen selbst herausziehe, dass sie mich mehr formen, als dass ich mich durch sie zum Ausdruck bringen könnte. Es ist paradox. Ich weiß nicht wo das Ich anfängt und wo das Draußen aufhört.
Ja, ich bin ein Opfer.

Rudy Mehlmann, 12.10.2022