Die nun geschilderten Ereignisse trugen sich vor einigen hundert Jahren zu, als das Licht noch von Kerzenschein geworfen und das Wasser mit Kübeln aus den Brunnen geschöpft wurde. Wir schreiben einen kalten September; nasse Winde fegen über dunklen Küstenstein und schwere Wolken lassen den Himmel, die Luft und nicht zuletzt die Gemüter ergrauen. Es ist ein Ort im Nirgendwo, ein Ort im Schatten aller anderen Orte, der noch nie auf eine Karte gezeichnet wurde und es mit Sicherheit auch niemals wird. Der schwermütige Trott der Einsamkeit und das ewige Rad der Zeit hängen von oben herab, umschließen alles und sich selbst wie eine Glocke. Die Blicke der Menschen, die auf ihren immergleichen Pfaden durch den Ort wandern, sind ebenso leer und freudlos, so gleich sie leer und ohne Trauer sind. Ihre Schritte, ihr Treiben und ihr Atmen sind wie das mechanische Rotieren, Ineinandergreifen und Schnaufen von Zahnrädern und Dampfmaschinen, ihr Schweiß perlt wie farbloser Ruß auf Böden und Wände. Schlieren bedecken ihre Gesichter, Furchen und Falten graben tiefe Spuren, ästeln sich auf ihren Wangen.
Häuser aus schwarzem Holz weichen hier und da schwarzem Stein, verwelkte und verdorrte Gartenleichen liegen auf den Hügeln, das Antlitz eines Felsens ziert eine gottlose Kirche. 

Im alten Bootsschuppen arbeitet ein junger Mann von siebzehn Jahren. William pflegt er sich zu nennen, schweigend ruht er über den Namen, mit dem seine Eltern ihn einst in heiligem Wasser salbten. Tag für Tag steht er hier, weicht nicht vom Fleck, und sägt und schleift das trockene Holz, vernichtet die von giftig braunem Morsch durchfressenen Späne und richtet so stundenlang Balken um Balken. Während seine vernarbten, rauen Hände werkeln und schuften, rührt sich nichts unterhalb seiner Hüfte oder oberhalb seiner Schultern, nicht einmal ein Blinzeln konnte ihm während der Arbeit entweichen. 
Irgendwann dann, wenn es Zeit wird das schwarze Öl der Messinglampe zu entfachen, beendet William sein Schaffen. Er legt seine Werkzeuge und Gesichtszüge beiseite, stapft aus dem Schuppen und verschließt ihn genau in dem Moment, in dem die Schatten ihn verschlucken. So lasten auf ihm die langen Sommer, in denen er schwitzt und stinkt, jedoch nicht einmal schnauft, und so lasten auf ihm auch die kurzen Winter, in denen es ihm fröstelt und schmerzt, er sich jedoch nicht einmal wärmt.
Williams Seele zu umschreiben ist ein Unterfangen, das nahezu unmöglich scheint. In seinen lieblosen Augen spiegelt sich das Meer wieder, auf welchem er geboren wurde. Das Tosen der Wellen, die Tiefe der schäumenden See, die berstenden Boote, gleichermaßen wie die salzige Brise und die stille Flaute. So unergründlich, so verschieden, so gewaltig ist das Dunkel seiner Iris. Nur ein kleines Stückchen tiefer findet sich sein schmaler Mund, die rissigen Winkel und die konturlosen, fahlen Lippen, die einen Schlund verbergen, der lieber Schnaps verzehrt als Worte speit. Das harte, kantige Kinn, unrasiert und stoppelig, wirkt unbewegt und grimmig. Seine stolze Brust ist groß und breit, gleicht den Armen und den Waden, sein Bauch ist flach und von einem schmutzigen Mal umschlungen. 
William kam eines Tages von der See, angespült und totgeschaukelt, Algen kotzend und mit Wasser in den Lungen. Schiffbrüchig sei er. Und obwohl die Leute im Ort ihn fürchteten und abscheulich fanden, nahmen sie ihn auf, gaben ihm Brot und Dach, halfen ihm das verderbliche Fieber zu überwinden, das ihn kurz darauf ereilte. Fortan widmete er sich einfachem Handwerk, verrichtete die Arbeit im kleinen alten Bootsschuppen und beschloss den Ort nie mehr zu verlassen.

Den Abend verbringt William für gewöhnlich hinter der Kirche. Er hockt sich auf den großen Felsen, gießt den brennenden Schnaps in die Kehle und verliert sich in den unendlichen, schwarzen Wassern. Er schaut wie die Wellen ineinander verschmelzen, in die Lüfte spritzen und schießen, nach vorne und zurück wiegen, sich aufbauen und abebben, manche von ihnen in der Brandung zerschellen. Und er bewundert wie all dies im Gleichschritt und in Fügsamkeit geschieht, wie das Orchester der Gewässer in Einklang spielt, dirigiert vom Takt des Meeres. Irgendwann dann tanzen ihm weiße Schemen nur noch ein trauriges Theaterstück vor. Dann fallen seine Augen fast zu, William leert den Rest der Flasche in einem Zug, kehrt heim und rauscht hinüber in den Schlaf.
So aber nicht an diesem trübseligen Septemberabend, an dem im Ort etwas Seltsames geschieht.
Williams Blick ist schon verzerrt und wahnsinnig, die ersten Felsenumrisse und Flecken im Wasser brennen sich in seine Augen. Da erblickt er eine Ungereimtheit. Fast stichartig lässt es ihn zucken und blinzeln und immer wieder blinzeln. Jeden Abend, den er hier sitzt, geschieht dasselbe. William spürt dieselben Winde, er riecht das selbe Salz, er horcht das selbe Brausen. Und wenn der Alkohol in Blut und Magen sich bindet, rumort und letztlich dann zu Kopfe steigt, verhüllt er ihn im immer selben Nebel.
Das was da treibt und schaukelt, kurz geschluckt und schließlich wieder ausgestoßen wird, das war neu und unbekannt. Es weckt einen Drang in William, den er sicher schon einmal verspürt, aber schon lange nicht mehr gekannt hat. Ein Sog in seinen Fingerspitzen, ein Kribbeln in den Zehen. 
Vorsichtig weicht er von seinem Platz. Sein Gang ist schräg und wackelig, der Fels unter den Sohlen wirkt weich und rund statt schroff und kantig. Der Schädel dröhnt und pocht ein Stück, zermartert werden Williams Sinne, sie implodieren und zerbröseln, zu einem wohlig warmen Taumel. Zwar konnte er den weiten Weg wählen, die Kirche umrunden, an seinem eigenen Bootschuppen vorbeistreifen und an der flachsten Stelle in die Fluten steigen, doch wählt er lieber die umständliche, gleich schnellere Methode. Zaghaft schneidet er sich eine Schneise durch den Urwald aus Dunkelgestein, klettert den Hang hinab, seine Tritte zwar bedacht und klug gewählt, doch nicht weniger unbeholfen und verkrampft. Schließlich erreicht er das schmale Ufer, die Hände trotz all ihrer dicken Haut wund und aufgescheuert. William hatte nie das Schwimmen erlernt, was er tat war also von einer nicht zu unterschätzenden Lebensmüdigkeit geprägt, jedoch stand die schwarze See hier noch an der Schwelle zu ihren mystischen, verschlossenen Untiefen und er versprach sich zumindest ein trockenes Haupt zu bewahren.
Die ersten Schritte sind schwer. Die Kühle und Nässe zerfressen seine Kleidung förmlich, lechzten nach dem nackten Leib, doch bleibt er willensstark und zielgerichtet. Mittlerweile steht er bis zum Hals in der Brandung, der Stoff um ihn herum nur vollgesogenes Polster, dass ihn in die Tiefe zerrt. Das Wasser spritzt ihm in Augen und Mund, brennt auf seinem Augapfel, der Geschmack lässt ihn an Vergangenes erinnern und Panik kocht in seinem nassbetäubten Körper auf. Hastig schaut er sich um; Hier irgendwo musste das seltsame Etwas treiben. Er schlägt wild um sich, versucht die Gewalt der Wellen mit bloßen Händen zu zerschmettern, doch scheitert kläglich und schluckt nur noch mehr See. Langsam gerät er in Hilflosigkeit, sein Atem wird heftig und flach, das Herz in seiner Brust scheint sich nach draußen hämmern zu wollen – doch dann schwappt eine Woge zu ihm herüber, mit sich trägt sie ein schwarzes Bündel. Auf Williams Gesicht zeichnet sich langsam eine freudige Gier ab, seine Angst wallt zurück, die Ruhe kehrt in seine Glieder.
Behutsam reckt er seine Finger nach vorn, tastet sich über das Etwas hinweg als sei er erblindet. Zerfetzter Stoff gleitet durch seine Finger, zuweilen unterbrochen von Stellen, die sich unter seinen Kuppen anfühlen wie aufgequollener, zerschrumpelter Schwamm. Die Welt um ihn herum beginnt zu bröckeln, der Mörtel der die Gegenwart erhält zerfließt, er vergisst die Eiseskälte der schwarzen See. Für William existiert nur noch das seltsame Etwas; er wollte es Atmen und Spüren, mit ihm Verschmelzen und es nie wieder fortlassen. Mechanisch, marionettenartig, nahezu verzaubert, drückt er sein nasses Gesicht in das treibende Bündel und zieht den ungeheuren Geruch in seine Nase. Vor seinem inneren Auge stellt er sich vor wie er von dort aus durch ihn hindurchwandert, tief hinab durch seine Lungenflügel gleitet und sich schließlich dem Fluss des Blutes durch seine Adern anschließt.
Mit aller Kraft bemüht William sich das Etwas aus den Fluten zu zerren, die Schwere scheint ihm unerwartet heftig. Nach einem kurzen letzten Kampf mit dem Gewässer geben schließlich seine Beine nach und er bricht erschöpft auf den harten Uferstein. 
Nachdem er einige Momente so auf dem Boden verharrt, keucht und das salzige Wasser aus dem Hals hustet, beugt er sich schließlich über das Bündel. Es ist blass und wirkt unproportional, unförmig und doch so vertraut. Fetzen sind um es herumgewickelt, Fäden ziehen sich über seine Oberfläche, oben schaut ein stummes Gesicht ins Leere. Wangenknochen so hart und fest wie Stahl brechen aus der eingefallenen Haut hervor, der Mund bildet ein schaumiges Loch in dem zerronnenen und von roten und blauen Flecken übersäten Gesamtbild. Die Augen sind starr und kühl, braun wie altes Holz, so tot und glanzlos, aber dennoch von einer wundersamen Anziehungskraft geprägt.    
Die nächsten Minuten sind in Williams Erinnerung nur Schnipsel und Lichtblitze, diffuser Hall und Lärm in seinen Ohren, fieberwahnsinnige Tobsucht, an dessen Ende er in seiner Hütte sitzt, vor ihm das Etwas. Sie, das Etwas. Die Angespülte, die vom Wasser hingerichtete, der einsame Abfall der Meeresgewalt. Doch William war sich sicher: Dass er sie gefunden hatte war kein Zufall, keine willkürliche Gefälligkeit des Herrn, ihre blinden Augen und ihr stummer Mund bedeuteten ihm etwas anderes. Es war Gefügigkeit, eine Harmonie des Zeitgeflechts und den Dimensionen des Raums, einer Bestimmung folgend. Auch wenn er nicht zu sagen vermochte, wie diese aussah.        
William hatte sie vor sich auf einen Stuhl gesetzt. Ihr Kopf war leicht in den Nacken gelegt, so konnte er sie besser anschauen. Stundenlang saß er so da, bis die Vögel draußen zu zwitschern begannen und das dumpfe Grau des Morgens seinen Schein durch die hölzerne Wandverkleidung warf. Die Spannung die zwischen ihr und ihm im Raum lag war von einer unbeschreiblichen Natur. Nervenzerfetzend und doch so seicht und lieblich in gleichen Teilen.
Je länger er sie anstarrte, desto mehr wusste William, dass er sie nie mehr verlassen würde. Ihre Seelen verschmolzen miteinander, gleichwohl ihre Körper durch Leben und Tod getrennt waren. Doch die Kräfte, welche hier wechselwirkten, lagen jenseits jeder Sterblichkeit.
Das erste Mal seit Stunden erhob William seinen Körper. Langsamen Schrittes ging er auf sie zu, sein Blick bohrend in den ihren. Nur wenige Zentimeter vor ihr hielt er inne. Er senkte seinen Oberkörper, so dass ihre Gesichter sich auf gleicher Höhe trafen und strich mit seinen rauen Händen über ihre schwammige Wange. Ein elektrisches Knistern zuckte durch seine Nervenstränge und ließ ihn erschaudern. Ihre Haut war kalt, leblos, rissig. Dennoch schienen seine Fingerkuppen heißer und wärmer zu werden, zittrig tasteten sie sich über das ganze tote Gesicht hinweg. Schließlich beugte William sich behutsam vor, nervös und unruhig, bis ihre Lippen aufeinandertrafen, und küsste sie.

Rudy Mehlmann, 2022; grafische Interpretation: Lilly Mehlmann, 2023