Interpretationen ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir setzen uns zusammen und deuten einen vorher zufällig festgelegten Titel in einem zuvor festgelegten Rahmen aus. Die Ergebnisse sind oft genug erstaunlich.

Gegner ohne Antworten [Rudy Mehlmann]

Ich bin alt. Älter als sehr, sehr viele Menschen, selbst wenn die ihr Leben zweimal gelebt hätten. Ich bin älter als mancher Krieg, der über unsere Erde tobte und bin älter als manches Buch, das für seine Weisheiten aus vergangenen Tagen gelobt wird. Ich bin sogar älter als so mancher Baum, dessen Krone den Himmel meiner Stadt küsst.
Ja, meine Stadt. Ich habe sie wachsen sehen, habe sie erblühen und schließlich von schwarzem Ruß verdreckt gesehen, und war schließlich bei ihr als sie brannte und im Sterben lag. Heute, heute da liege ich im Sterben. Kann nicht mehr alleine essen, den Brei müssen sie mir fast schon gewaltsam in den Rachen stopfen und ich kann nicht mehr alleine atmen, das erledigt jetzt eine Maschine für mich. Und dennoch… wenn ich aus dem schmalen Fenster meines Zimmers schaue, wenn ich an den weißen Rahmen vorbei die Bäume erblicke, wie sie ihre Leiber im Rausch des Windes schaukeln, dann weiß ich, dass ich nicht gehen möchte. Ich habe viel gesehen und viel erlebt, mehr als die meisten anderen Menschen, und dennoch habe ich noch so viele Fragen an die Welt da draußen. Und das – das was vor mir liegt, das Dunkel, der Himmel, die Stille, das ist ein Ort, der keine Antwort schenkt.
Lange kann ich diesen Kampf nicht mehr kämpfen, mein Körper wird immer schwächer und die Maschine immer teurer. Aber eigentlich möchte ich mich nicht geschlagen geben. Möchte nicht die Augen schließen und hinabtauchen in die Finsternis meiner Seele, dorthin wo ich nicht mehr das bin, was ich jetzt bin.
Meine Augen werden müde… sie fallen langsam immer weiter zu… nur habe ich so viele Fragen… Fragen über Fragen, auf die mir niemand jemals antworten wird.

06.02.2022


Gegner ohne Antworten [Birger Stepputis]

Sie sind eine Krankheit. Oder eher noch, sie sind ein Symptom. Ein Auswuchs. Ein Krebsgeschwür. Zurecht enttäuscht. Zurecht fühlen sie sich verlassen. Zurecht sind sie wütend. Doch sie haben nicht recht. Sie haben nie recht. Sie gießen den Strahl aus geschmolzenem Gold nicht in die Form der Lösung, in die Form des aufrichtigen Veränderns, sie gießen es in die Form des Hasses. Und wenn sie es festwerden lassen, wenn es hart wird wie sie selbst, ist von dem Gold nichts mehr übrig. Dann halten sie einen schwarzen, schweren Klumpen in den Händen. Statt Kraft aus dem Schlechten zu schöpfen und daraus Gutes in der Zukunft zu schaffen, blicken sie starr zurück, suchen ihr Heil nicht im Morgen, sondern im Gestern. Sie können provozieren. Sie können aufregen. Sie können Grenzen überschreiten. Sie können gegen alles sein, immer und egal was, Hauptsache dagegen. Aber helfen? Helfen können sie nie! Ihr Weg führt gegen den nächstbesten Baum. Und dennoch… Dennoch überschwemmen sie die Welt mit ihrer Propaganda. Mit ihren Lügen. Mit ihren Anklagen, die immer diffus bleiben und sich oft gegen die Falschen richten. Und dennoch, dennoch wird ihnen gefolgt. Dennoch werden sie wieder größer, einflussreicher, gefährlicher, richten ihren immer wiederkehrenden grässlichen Dolch auf uns und sagen: “Seht uns an, wir sind dagegen!” Wir müssen darauf reagieren, immer wieder, denn schweigen, zuschauen, das bedeutet ja-sagen. Wir müssen antworten, denn sie können es nicht: “Ihr seid die, die stets mit dem Rücken zur Zukunft, zum Neuen stehen. Dann seht doch zurück! Seht ihr euch selbst? Seht ihr euch in eure braunen Säcke gehüllt? Sehr ihr euch den Arm zum Gruß heben? Wollt ihr das wirklich sein? Lernt! Schaut zurück, doch bitte lernt!” Wer alles verneint, hat keine Lösungen. Wer alles verneint, der wird immer ein Gegner ohne Antworten bleiben!

06.02.2022